Rede von Markus Kurth Sozialversicherung

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26.06.2024

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Problem bei diesen Debatten – das muss ich auch den Zuschauenden auf der Tribüne sagen – ist immer, dass sie vielfach frei von Zahlen und Tatsachen geführt werden. Dabei kommen dann solche widersprüchlichen Dinge heraus, wie sie Frau Huy gerade erzählt hat.

(Gerrit Huy [AfD]: Von wegen!)

Wenn man beklagt, dass das Rentenniveau zu niedrig sei,

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Ist es auch!)

dann kann man sich nicht gleichzeitig darüber beschweren, dass die Sozialversicherungsbeiträge zu hoch seien. Sie haben das Beispiel Österreich genannt. Ich habe mir da einmal die Zahlen besorgt, weil ich mir schon dachte, dass das Thema kommt. Nach dem Anteil der Rentenausgaben am Bruttoinlandsprodukt, also an der gesamten Wirtschaftsleistung, im OECD-Vergleich fragt die Union auch in ihrer Großen Anfrage. Diese liegen in Deutschland bei rund 10 Prozent der Wirtschaftsleistung. In Österreich liegen sie um 30 Prozent höher, nämlich bei 13 Prozent.

(Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [Die Linke])

Damit kann man dann auch ein höheres Rentenniveau bezahlen. Der Kern der Sache ist also der, dass wir uns hier um Verteilungsfragen kümmern müssen und uns nicht einfach beliebig einzelne Dinge irgendwo rauspicken können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Götz Frömming [AfD]: Sie verteilen die Rentenleistung für andere Zwecke!)

Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Union eine ernsthafte Debatte auf der Grundlage der in ihrer Großen Anfrage gestellten Fragen eingeleitet hätte. Das wäre vernünftiger gewesen. Sie hätten ja zum Beispiel mal mit der Mär vom aufgeblähten Sozialstaat aufräumen können. Da gibt es zum Beispiel OECD-Zahlen, die zeigen, dass Deutschland zwischen 2002 und 2022 auf dem drittletzten Platz der OECD-Staaten steht, was den Zuwachs der Sozialausgaben anbelangt.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Mehr geht ja auch kaum!)

Dann sieht man zum Beispiel auch: Wenn man öffentliche und private Ausgaben für Soziales zusammennimmt, haben die USA und die Niederlande einen größeren Sozialsektor als Deutschland. Das ist eine Tatsache.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und dabei gibt es in den USA ein Gesundheitssystem, in dem alles privat bezahlt werden muss, das aber oft schlechtere Leistungen und eine höhere Sterblichkeit aufweist. Das ist auch eine Tatsache, die Sie hätten herausfinden können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

In Bezug auf die gesetzliche Rentenversicherung hätten Sie herausfinden können, dass der Anteil der Rentenausgaben am Bruttoinlandsprodukt, an der Wirtschaftsleistung also, über Jahre stabil geblieben ist. Das ist zum Beispiel in der Reihe „Rentenversicherung in Zeitreihen“, die von der Deutschen Rentenversicherung selbst herausgegeben wird, gut nachzulesen. Sie hätten sich den Bericht vom Bundesrechnungshof zu den versicherungsfremden Leistungen, der erst ein paar Monate alt ist und den wir kürzlich im Haushaltsausschuss diskutiert haben, angucken können. Dann hätten Sie sehen können, dass der Bundeszuschuss sehr wohl die versicherungsfremden Leistungen abdeckt, wenn man eine enge Abgrenzung der versicherungsfremden Leistungen vornimmt.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Sie hätten sehen können, dass die Schwierigkeit eher darin besteht, festzulegen, was man wie zu den versicherungsfremden Leistungen zählt. Sie hätten genauso den Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung von 2023 nehmen können, um die Projektion über den Anstieg der Beitragssätze zu sehen, der nämlich im Vergleich zum demografischen Wandel und zur Alterung recht moderat ist. Sie hätten die seit 2007 halbjährlich erscheinenden Berichte der Bundesagentur für Arbeit über die Einschätzung der Finanzentwicklung nehmen können; auch das haben wir erst vor drei Wochen im Haushaltsausschuss genau besprochen. Und da Sie sich auch immer für die Migranten interessieren, hätten Sie sich gleichzeitig eine Studie der Techniker Krankenkasse ansehen können, wonach Zugewanderte doppelt so viele Beiträge bezahlen, wie sie an Leistungen in Anspruch nehmen, weil es nämlich meistens jüngere und gesündere Versicherte sind. Das ist also ein Zugewinn.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Und Sie hätten im Jahresgutachten 2022 des Sachverständigenrates für Integration und Migration nachlesen können, dass jeder sechste Erwerbstätige in den Gesundheits- und Pflegeberufen im Ausland geboren ist,

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)

dass wir also eine Menge Stationen schließen müssten, wenn wir diese Arbeitskräfte nicht hätten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

So kann man es fortsetzen; mir fehlt die Zeit, um auf alle Punkte einzugehen.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Was haben die Rentner jetzt von Ihrer Rede?)

Stattdessen wird hier ein Popanz aufgebaut. Leider spricht der Hauptgeschäftsführer der BDA, Steffen Kampeter, der ja auch ein Kollege hier war, CDU-Mitglied, von einem „Netto-Diebstahl“. Das muss man sich mal vorstellen: Da wird also der Einzug von Sozialversicherungsbeiträgen, die uns hier wichtige Leistungen bringen, mit einer Straftat verglichen. Wo sind wir denn da? Und das macht die BDA!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde außerdem: Wenn man sich hier über ein zu hohes Kostenniveau und dergleichen beschwert, dann darf man keine Verweigerungshaltung einnehmen, wenn es um Strukturreformen geht. Da nehme ich einmal die Krankenhausstrukturreform als Beispiel: Es ist ganz klar, dass wir auch im internationalen Vergleich eine ineffiziente Struktur haben, viel zu viele kleine Krankenhäuser, die nicht spezialisiert sind. Es gibt x Studien, die belegen, dass die Mortalität in diesen Krankenhäusern höher ist. Weil teilweise jeder Landkreis sein eigenes Krankenhaus haben will, blockieren bestimmte Bundesländer dann die Krankenhausstrukturreform; ich denke insbesondere an Bayern. Karl Lauterbach sagt: 60 Prozent der Krankenhäuser mit weniger als 150 Betten befinden sich in Bayern, und sie sind aufgrund ihrer geringen Größe, was ihre Leistung angeht, einfach nicht gut.

(Emmi Zeulner [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht! – Stephan Stracke [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht, Herr Kurth! Die Krankenhäuser sind meistens besser!)

Und Karl Lauterbach sagt auch: Die Ärzte, die dort arbeiten, würden sich selbst und ihre Angehörigen nie dorthin schicken. Solange man sich diesen Strukturveränderungen verweigert, hat man überhaupt keine Veranlassung, hier jetzt über zu hohe Kosten zu klagen,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

und erst recht nicht, die Ampel dafür verantwortlich zu machen.

Ich kann also wirklich nur befehlen – –

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Lachen bei der CDU/CSU – Tino Sorge [CDU/CSU]: Genau das ist die Denke der Grünen!)

Entschuldigung. Ich kann nur empfehlen, dass Sie sich mit diesen öffentlich zugänglichen Fakten, von denen ich hier einige zusammengestellt habe, Ihre Anfrage selbst beantworten.

Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Tino Sorge [CDU/CSU]: Freud lässt grüßen!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Für die FDP-Fraktion hat Anja Schulz das Wort.

(Beifall bei der FDP und der SPD)