Rede von Annalena Baerbock Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Münster, Bergisch Gladbach, Lügde, Staufen – jeder einzelne Fall steht für ein zerstörtes Kinderleben. Daher ist es absolut wichtig und richtig, dass Sie heute diesen Gesetzentwurf hier einbringen und dass die Bekämpfung von sexualisierter Gewalt an Kindern eben ganzheitlich angegangen wird.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gut, dass Sie als Union nun endlich auch dazu bereit sind, eben nicht nur auf das Strafrecht zu schauen.
(Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: Abenteuerlich!)
Frau Lambrecht, ich danke Ihnen an dieser Stelle ausdrücklich, dass viele Regelungen zur Verbesserung der familiengerichtlichen Verfahren, die auch gerade meine Kollegin Katja Keul hier in der Vergangenheit immer eingefordert hat, in diesem Gesetz
(Zuruf der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU])
– können Sie doch stolz drauf sein – jetzt mit verankert sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])
Denn insbesondere die Anhörung jedes einzelnen Kindes ist essenziell. Ich verstehe gar nicht, warum Sie da von der CDU den Kopf schütteln.
(Zurufe von der CDU/CSU)
Nehmen wir das Beispiel aus Staufen. Schauen wir uns an, was da passiert ist. Es war klar: Es wird zu einem Missbrauch des Kindes kommen. Das Jugendamt selber hat deswegen ein Kontaktverbot mit dem Täter beantragt. Dann hat die Mutter dagegen geklagt. Das hätte schon alle Alarmglocken läuten lassen müssen. Und trotzdem hat das Gericht in zwei Instanzen entschieden, dieses Kontaktverbot, welches das Jugendamt beantragt hat, aufzuheben, weil das Kind nicht angehört wurde. Es ist essenziell, dass dies geändert wird!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Die Verschärfung des Strafrechts – dies jetzt bitte nicht falsch verstehen –, so richtig sie ist, ist für sich allein keine Lösung. Kinderschutz im umfassenden Sinne gelingt durch einen Perspektivwechsel in Bezug auf Kinder als Rechtssubjekte auch in juristischen Verfahren und nicht nur als Objekte.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Kinderschutz braucht Prävention. Es braucht diesen Dreiklang. Ich halte es wirklich für fatal, dass jetzt wieder versucht wird, das Ganze parteipolitisch gegeneinanderzustellen. Das ist nicht im Interesse der Kinder.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)
Daher kann dieser Gesetzentwurf – wir unterstützen ihn ja; ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen – nur der Anfang dieser Debatte sein.
Ich möchte gern auf einzelne Details eingehen. Herr Frei, die Anhörung wird entscheidend sein, und das gilt nicht nur für die Koalitionspartner – was ist das denn für ein parlamentarisches Verständnis! –, sondern auch für die Opposition, also für alle, die in der Anhörung ihre Stellungnahmen vorbringen.
Zu Beginn möchte ich gern auf den strafrechtlichen Teil eingehen. Die Anhebung von Verjährungsfristen ist wichtig und richtig. Die Ausweitung der Ermittlungsbefugnisse ist absolut notwendig, ebenso der Einbezug der Tatbestände, die die Handlungen mit oder von Dritten betreffen. Danke, Frau Lambrecht, dass Sie da genau hingeschaut haben. Das ist wichtig, liebe Kollegen von der Union; denn im finalen Gesetzentwurf ist nun die Möglichkeit des Absehens von einer Strafe bei Jugendlichen vorgesehen. Diese Details sind essenziell. Wir wollen doch nicht Teeniepärchen in den Blick nehmen, sondern die Täter, die sich an Kindern vergehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte darum bitten, dass wir die Anhörung ernst nehmen.
Warum Sie aber die Möglichkeit des Absehens von Strafe bei jugendtypischem Verhalten im Zusammenhang mit dem Besitz eines Bildes in den entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches nicht mit aufgenommen haben, Frau Lambrecht, das verwundert mich. Ich glaube, es ist ernsthaft notwendig, dass wir das gemeinsam diskutieren.
Zu einem zweiten Punkt im Strafrechtsbereich. Über die Begriffsänderung kann man sich natürlich streiten. Ich habe da ein bisschen Sorge, dass durch die Einführung des Begriffs „sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ suggeriert wird, dass kein sexueller Missbrauch vorliegt, wenn es keine körperliche Gewalt durch Schläge gibt. Es darf aber nicht der Hauptfokus sein, jetzt um Begrifflichkeiten zu streiten.
Wenn man schon etwas ändert, dann muss man auch den verharmlosenden Begriff der Kinderpornografie – eben wurde abgekürzt von „Kinderpornos“ gesprochen – mit ändern. Das halte ich für wichtiger.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Besser muss es heißen „pornografische Gewalt gegen Kinder“ oder „Abbildung von sexualisierter Gewalt“. Da müssen wir ran.
Jetzt zu den familiengerichtlichen Verfahren. Sie sind richtig und gut, aber auch hier stellen sich Fragen: Warum gibt es eine Weiterbildungspflicht für Verfahrensbeistände, aber nicht für Richterinnen und Richter? Schauen Sie sich die Fälle noch einmal genau an: In Staufen waren es Richterinnen, die in dem Strafrechtsverfahren den Straftäter verurteilt haben. Eine Fortbildungspflicht auch für Richterinnen und Richter gehört in dieses Gesetz ebenso hinein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Schauen Sie sich die Leitlinien des Europarates zu einer kindergerechten Justiz an, die von Deutschland mitgetragen wurden. Da steht das genauso drin.
Ein weiterer Punkt ist für mich – das ist sicherlich ein nächstes Gesetzespaket –, dass wir eine eigenständige Familiengerichtsbarkeit für diesen Bereich brauchen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum man bei einem Streit über die Höhe einer Mietminderung immer bis zum BGH hochgehen kann, aber gegen die existenzielle Entscheidung über das Schicksal eines einzelnen Kindes keinerlei Nichtzulassungsbeschwerden möglich sind. Das erschließt sich mir nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was mich umtreibt, sind all die Fälle, bei denen es zu keiner Strafe kommt, bei denen die Täter nicht verurteilt wurden, weil wir sie nicht sehen. Daher kann dieser Gesetzesentwurf nur ein Anfang sein. Wir brauchen endlich eine SGB-VIII-Reform. Wir brauchen einen gemeinsamen Pakt zwischen Bund und Ländern; denn die Länder sind hier in einer entscheidenden Rolle.
Die Ressourcen der Jugendämter müssen aufgestockt werden. Präventionsarbeit muss geleistet werden, Ombudsstellen müssen geschaffen werden. Wichtig sind auch Traumatherapien; denn das Leben dieser Kinder endet nicht, und wir müssen ihnen helfen, es weiterzuführen. Daher verstehe ich, ehrlich gesagt, auch nicht, dass Sie als Bundesgesetzgeber bei der Reform des sozialen Entschädigungsrechts zwar eine flächendeckende Traumaambulanz für Erwachsene einführen, aber nicht für Kinder. Wir lassen sie an dieser Stelle erneut im Stich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kann heute nur der Anfang sein. Wir sind den Kindern gegenüber in der Pflicht, dass wir gemeinsam beraten. Wir sind es diesen Kindern schuldig, weil solche Taten jeden Tag, mitten in diesem Land, weiterhin passieren, auch mit dieser Gesetzesreform. Wir kennen diese Kinder; ein bis zwei davon gibt es in jeder Schulklasse. Wir sind ihnen gegenüber verpflichtet, gemeinsam zu handeln, erst recht mit weiteren Gesetzen.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Dirk Wiese, SPD, ist der nächste Redner.
(Beifall bei der SPD)