Rede von Erhard Grundl Aufarbeitung NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation

Foto von Erhard Grundl MdB
27.06.2024

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Vorrede zu Ihrem Bericht „Eichmann in Jerusalem“ wirft Hannah Arendt die Frage nach der Urteilskraft auf. Sie schreibt:

„Was wir in diesen Prozessen fordern, ist, daß Menschen auch dann noch Recht von Unrecht zu unterscheiden fähig sind, wenn sie wirklich auf nichts anderes mehr zurückgreifen können als auf das eigene Urteil …“

Für Hannah Arendt ist klar: Die Gesetzgebung eines verbrecherischen Staates ist niemals ein moralischer Freifahrtschein. Es muss einen inneren Kompass geben, so die Hoffnung.

Im Fall von Paul Loh gab es diesen inneren Kompass nicht. Paul wurde 1917 in der Nähe von Hamburg geboren. Er wurde als fröhlicher Junge beschrieben, als einer, der gern Platten hörte und die Schlager seiner Zeit lauthals mitsang. Nur Lesen und Schreiben fielen ihm schwer. Mit Hitlers Gewaltherrschaft änderte sich das Urteil seiner Pfleger. Jetzt galt Paul als erbkrank. Paul wurde in einem grauen Bus an das andere Ende des Landes gebracht. Er starb – an Tuberkulose. Angeblich! Tatsächlich ließen ihn Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger verhungern. Heute erinnert eine Gedenktafel seiner im Garten des Bezirksklinikums Mainkofen.

Ein anderes Beispiel ist Dorothea Buck. Mit 19 Jahren wurde bei ihr Schizophrenie diagnostiziert. Sie kam in die Psychiatrie, wurde zwangssterilisiert. Sie überlebte die Folter, die Herrschaft der Nationalsozialisten, anders als das vielleicht bekannteste Opfer der NS-Euthanasie, Marianne Schönfelder. Sie ist die „Tante Marianne“, der Gerhard Richter ein malerisches Denkmal baute. Ein Mahnmal.

Das war wichtig; denn lange wurde die Geschichte der Euthanasie-Opfer und der Opfer von Zwangssterilisation verschwiegen sowie die Mechanismen, die zu den Verbrechen führten. An die Stelle des individuellen Wohls trat die Erbarmungslosigkeit des Volkskörpers. Damit wurde der Grundkonsens universeller Grund- und Menschenrechte verworfen und getreten. Krankheit, Behinderung, Schwäche, Alter gehörten nach der Logik des Nationalsozialismus nicht zur Bandbreite des Menschseins. Die Ethik ärztlichen Handelns, die Sorge um den kranken Einzelnen, die heute wieder gilt, wurde in ihr grauenhaftes Gegenteil verkehrt.

Der vorliegende interfraktionelle Antrag stellt zunächst ausdrücklich fest: Die Opfer der NS-Euthanasie und von Zwangssterilisation sind als Verfolgte des NS-Regimes anzuerkennen. Das ist unsere Botschaft. Vom ideologischen Inhalt des Begriffs „Euthanasie“ distanzieren wir uns. Der Begriff verbrämt die massenhaften Morde als – in Anführungszeichen – „schönen Tod“ und Befreiung vom angeblich – in Anführungszeichen – „unwerten Leben“. Von diesem ideologischen Gehalt grenzen wir uns mit Nachdruck ab. Denn: Wie eine Gesellschaft mit denen umgeht, die der Hilfe bedürfen, sagt alles über ihre innere Verfasstheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Der vorliegende interfraktionelle Antrag will ein Projekt starten, um Patientenakten und weitere Quellen zu sichern und für Angehörige wie Forschung zugänglich zu machen; denn gerade in der Aufarbeitung der Nachgeschichte nach 1945 gibt es weiter große Lücken. Gleichzeitig drohen vor dem Hintergrund der Privatisierung kommunaler Kliniken, unter anderem Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, Akten verloren zu gehen. Sie zu sichern und zentral zugänglich zu machen, das ist unser Ziel. Dabei soll der Fokus weiter auf Gedenkstätten und Erinnerungsorten liegen. Gedenken muss dezentral an den Orten erfolgen, an denen Menschen ihre Angehörigen verloren haben.

Es soll hierzu eine nationale Fachtagung durchgeführt werden unter Beteiligung großer Einrichtungen und vieler zivilgesellschaftlicher Initiativen; denn aus der Zivilgesellschaft entstand die deutsche Erinnerungskultur. Ihrer Arbeit ist es zu verdanken, dass das Schweigen gebrochen und die Erinnerung an die Opfer der Euthanasie-Verbrechen und von Zwangssterilisation heute lebt.

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Sie müssten jetzt doch langsam zum Schluss kommen.

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Meine Damen und Herren, die Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine Investition in die Zukunft – ein wichtiges Zeichen in Zeiten, in denen Mitmenschlichkeit infrage gestellt wird und Ausgrenzung zum politischen Geschäftsmodell erklärt wird.

Ich danke allen beteiligten Kolleginnen und Kollegen für die Erarbeitung dieses Antrags –

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Herr Abgeordneter.

Erhard Grundl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

– und freue mich, dass wir mit diesem breiten Konsens jetzt ein wichtiges Versprechen einlösen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Das Wort erhält Dr. Götz Frömming für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)