Rede von Lamya Kaddor Aktuelle Stunde „Einwanderung“
Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Tja, wenn man dem folgt, was man da gerade gehört hat, müsste ich ja demnächst ausreisen.
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wohin?)
– Ja genau: Wohin eigentlich?
(Zuruf von der AfD: Wenn Sie wollen!)
– Ich antworte Ihnen besser nicht.
In neun Ländern ist die Union an der Regierung beteiligt. Ihre Stimme kam also in erheblichem Maße in der gerade abgehaltenen Ministerpräsidentenkonferenz zur Geltung. Eben diese MPK hat sich auf einen umfangreichen Beschluss zur Flüchtlingspolitik unter dem Motto „Humanität und Ordnung“ verständigt. By the way: Unsere Verfassung kennt das Gremium der MPK nicht. Der Gesetzgeber ist selbstverständlich der Deutsche Bundestag. Doch während die Stühle der MPK noch warm sind, steht die Unionsfraktion hier im Parlament und beantragt eine Aktuelle Stunde zu ebenjenem Thema, obwohl ihre eigenen Parteienvertreter den Beschluss selbst mit herbeigeführt haben. Da staunen die Laien, und die Fachleute wundern sich, meine Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das Bestmögliche haben sie erreicht!)
Sie hatten über die Beteiligung der Länder die Gelegenheit, Ihre fachpolitischen Vorschläge einzubringen. Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Merz, wurde persönlich ins Kanzleramt geladen,
(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: „Geladen“? Einbestellt! – Alexander Throm [CDU/CSU]: Vorgeladen! – Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ihre Vorschläge wurden gehört und besprochen. Wir können nur eines aus diesem Gebaren schließen: Es geht Ihnen nicht um dieses Land; es geht Ihnen um Ihre eigene Partei. Und da kann ich nur sagen: Es reicht, liebe CDU, es reicht!
(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: 26 Vorschläge!)
Hören Sie doch einfach auf mit dieser absurden Fundamentalopposition,
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Quatsch! Ihre Politik hat doch nur eine negative Wirkung!)
die wir in diesen Zeiten nicht brauchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Hören Sie doch bitte einfach auf, dieses Land mit Ihren Scheinlösungen immer weiter zu spalten.
(Zuruf von der AfD)
Wir müssen einen demokratischen Konsens finden, um die Migration zu organisieren und den Bürgerinnen und Bürgern die Ängste davor zu nehmen. In der Sache sind wir uns doch vollkommen einig,
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Nee, sind wir nicht! Wir sind uns in der Sache eben gerade gar nicht einig!)
dass Migration eine der größten politischen Herausforderungen unserer Zeit ist und es nicht die eine Lösung gibt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Selbst alle Vorschläge zusammen bringen erst einmal keinen kurzfristigen Erfolg bei der Herausforderung, Zuwanderung nach rechtsstaatlichen Standards pragmatisch und geordnet zu organisieren. Genau deshalb können Rufe nach immer schärferen Maßnahmen und Regeln nur populistisch sein. Das ist der Sache einfach nicht angemessen. Ich denke, auf diesen Nenner können wir uns doch einfach mal einigen, oder?
(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Mit Ihnen kann ich mich nicht einigen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Geflüchteten mit Humanität zu begegnen, ist kein naives, wokes Heititeiti. Es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die uns in Europa durch die wohl härteste Lektion der Menschheitsgeschichte eingebläut wurde.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir wissen heute besser als manch andere in der Welt, was passieren kann, wenn Unmenschlichkeit die Herrschaft erringt. Deshalb dürfen Europa und darf gerade auch Deutschland nicht nur auf den eigenen Nabel schauen.
Deutschland trägt besondere Verantwortung als eine der größten Volkswirtschaften der Welt, als respektiertes Mitglied der Staatengemeinschaft. Es ist der Bundesrepublik in die Wiege gelegt worden, dass sie die Lehren der Vergangenheit nicht vergessen darf – nicht als Strafe für auf sich geladene Schuld von Vorvätern und Vormüttern, sondern als Ausdruck von Verstand und Vernunft.
Zeitzeugen berichten uns bis heute, wie schlimm die Situation von Geflüchteten und Vertriebenen im und nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen ist. Also vor gar nicht allzu langer Zeit waren viele unserer Großväter und Großmütter existenziell darauf angewiesen, dass andere ihnen Aufnahme und Schutz gewährten, weil die Welt ihrer Kindheit im Chaos versunken war, weil sie vertrieben, verjagt und verfolgt worden sind. Man kann doch nicht so geschichtsvergessen sein, dies schon nach wenigen Jahrzehnten zu vergessen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Morgen erinnern wir an den 85. Jahrestag der barbarischen Reichspogromnacht. Wer sich der Losung „‚Nie wieder!ʼ ist jetzt“ anschließt – und das haben Sie getan –, muss sich ihr voll und ganz anschließen, nicht selektiv. Dazu gehört, Menschen, die heute um ihr Leben fürchten, nicht im Stich zu lassen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LINKEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP])
Ich wiederhole: Das ist eine zivilisatorische Errungenschaft nach Kolonialismus, NS-Zeit und kommunistischer Diktatur. Wenn Europa die Flagge des Humanismus nicht mehr hochhält, wenn wir es nicht tun, wer dann? Wie sollen wir ohne dies außenpolitisch ernstgenommen werden, wenn wir gegenüber anderen Staaten für die Menschenrechte werben wollen?
Hohes Haus, die MPK hat sich auf eine Reihe von Maßnahmen verständigt, die wir als Arbeitsgrundlage für ein weiteres parlamentarisches Vorgehen nutzen sollten. Dabei hält auch die MPK fest, dass einer der besten Wege für mehr Akzeptanz und schnellere Integration in zügiger Arbeitsaufnahme liegt.
Liebe Union, wenn Sie uns Grünen schon nicht glauben wollen, dann hören Sie doch wenigstens auf Ihre eigenen Ministerpräsidenten, die diese Zusammenhänge ganz offensichtlich als handlungsleitend erkannt haben. Der Kompromiss der MPK – ich komme zum Schluss –, den wir auch hier im Parlament aufmerksam prüfen werden, zeigt, dass eine konsensorientierte Sachpolitik auch in der Migrationspolitik im Prinzip möglich ist. Also lassen Sie uns doch bitte daran anknüpfen und den Diskurs entschärfen; denn es geht – und das dürfen wir niemals vergessen – schließlich um Menschen.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP])