Rede von Claudia Roth 80. Jahrestag Überfall Deutschland auf die Sowjetunion
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Am 22. Juni 1941 überfiel Nazideutschland die Sowjetunion und begann mit der systematischen Vernichtung und Ermordung all dessen, was sich dem Versklavungsversuch der Nazis widersetzte. Das Ausmaß des menschlichen Leids und der Zerstörung bleiben auch 80 Jahre danach unvorstellbar, unfassbar. Der Rassenwahn der Nazis hatte den Boden für diesen Krieg bereits Jahre zuvor bereitet. Mit dem sogenannten jüdischen Bolschewismus wurden die Feindbilder klar umrissen. Die Antastbarkeit der Menschenwürde und die Bestimmung des sogenannten „unwerten Lebens“ wurden mit jahrelanger Propaganda und Reduzierung der Menschen auf ihre ethnische, religiöse und kulturelle Herkunft begründet.
Den Worten folgten grauenhafte Taten. Zur Erreichung der offiziellen Kriegsziele wurden große Teile der sowjetischen Bevölkerung vertrieben, versklavt und getötet: Lemberg, Minsk, Riga, Leningrad, Odessa, Babyn Jar stehen längst nicht vollzählig symbolisch dafür.
Am Ende der Besatzung war der Boden der Sowjetrepubliken blutgetränkt, waren Dörfer, Regionen, aber auch ganz gezielt jüdische Gemeinden dem Erdboden gleichgemacht. Forschungen sprechen heute von bis zu 40 Millionen Opfern. Allein in Weißrussland wurden bei Massakern gegen die Zivilbevölkerung 345 000 Menschen von deutschen Soldaten ermordet. In Babyn Jar erschossen die Sonderkommandos der Wehrmacht in 36 Stunden 33 771 Jüdinnen und Juden, darunter Säuglinge und Kinder.
In der Erinnerungspolitik der Bundesrepublik spielten diese Opfer und ihre Hinterbliebenen kaum eine Rolle. Aufgrund der politischen Spaltung Europas kamen sie unter die Räder des Kalten Krieges. Wo wurde ich, aufgewachsen in Süddeutschland, damit konfrontiert? Im Geschichtsunterricht nicht. Durch meine Oma vielleicht, die Zeit ihres Lebens hoffte, dass ihr Bruder Hans aus Stalingrad zurückkehrt, durch meinen Klavierlehrer, der immer viel zu große Stiefel trug, weil ihm die Zehen dort abgefroren waren.
Anlässlich des 80. Jahrestags stelle ich mit Scham und Schrecken fest, wie groß die blinden Flecken unserer Erinnerung sind, stelle fest, dass wir eine in Ost und West geteilte Erinnerung haben. Aber diese müssen wir zusammenführen, das Vergangene zusammendenken; denn auch die Erinnerung an die Verbrechen in der ehemaligen Sowjetunion gehört doch zu unserem kollektiven Gedächtnis, und das darf nicht verblassen, weil es die Sowjetunion nicht mehr gibt.
Eine ehrliche, eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte stärkt die Demokratie, und das beugt rassistischen Ideologien mit Vernichtungs- und Säuberungsfantasien vor. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist unsere Aufgabe.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Nächster Redner ist der Kollege Carsten Schneider, SPD.
(Beifall bei der SPD)