Die Leiden des Trainers R.
– oder: Nicht weniger als ein langes Sommermärchen
Im Fußball zeigt der Mensch seinen wahren Charakter. Er reißt sich im Jubeltaumel nach dem Tor und in der Empörung über ein verstecktes Foul die Maske vom Gesicht. Er spielt selbstlos und erobert Bälle zurück, die seine achtlosen Vorderleute leichtfertig vertändelten und will als Lohn und Anerkennung nur ein Teil der Mannschaft sein. Er legt den Ball allein vor dem Torwart quer zum Mitspieler, der nur noch einzuschieben braucht. Er fühlt die Schmerzen und Erschöpfung der Mannschaft mehr als sein eigenen. Oder er schimpft auf die Unzulänglichkeiten von Mitspielern, Schiedsrichtern, Gegnern und Platzverhältnissen. Er dribbelt mit dem Blick auf den eigenen Füßen, nur das Tor im Sinn und taub für die Zurufe seiner Nebenleute. Er zieht am Trikot und beklagt selbst die leiseste Berührung.
Und weil Fußball Charakter enthüllend ist, muss er auch Charakter bildend wirken – zumal wenn eine Truppe mehr oder minder begabter Hobbykicker die Werte einer politischen Gruppierung repräsentieren sollen und die Deutung des Spiels eben jene Werte auch auf dem Platz wieder erkennen soll. Es ist nicht allzu schwer vorstellbar, welch Können dies vom Trainer einer solchen Mannschaft verlangt. Es verlangt nicht weniger als einen Künstler, der zusätzlich auch noch ein politischer Philosoph sein muss.
Als Ratimir Britvec seine Heimat Serbien verlassen musste, weil sein politisches Engagement das Leben von ihm und seiner Familie in Gefahr gebracht hatte, gab er nicht nur sein Studium der Philosophie auf, er musste auch mehrere Basketball- und Fußballmannschaften in allen Altersklassen von Kindern bis zu Erwachsenen zurücklassen, deren Trainer er war. Aber was er mitnahm waren die Erfahrung und feste Überzeugung, wie man im Sport Menschen und Mannschaften formen kann und wie man schönen Fußball in einem Kollektiv von Individualisten spielt. Nichts weniger war es, was die Grüne Tulpe brauchte, als Ratimir 1999 ihr erster wirklicher Trainer wurde, der weit mehr als nur ein neues Spielsystem einführte.
Die Tulpe hatte bereits einen weiten Weg hinter sich, entstanden aus der Fußballbegeisterung einiger Abgeordneter war sie eine Fraktionsmannschaft geworden mit Mitarbeitern und Praktikanten. Die Hierarchie der Mannschaft war die der Fraktion. Ludger Volmer war notgedrungen der erste moderne mitspielende Torwart, der die Konter mangels zurückgelaufener Defensive persönlich vor dem Strafraum abfangen musste. Totaler Fußball bezog sich nur auf die Offensive, an der sich alle, sobald ein Ball in grünen Reihen war, beteiligten.
Aber die eigentliche Herausforderung erwartete den neuen Trainer in der sozialpsychologischen Komponente, die jede Mannschaft zwangsläufig prägt. Die Tulpe war eine chaotische Truppe, mindestens zur Hälfte Egozentriker, von denen ein Team eigentlich maximal einen alleine integrieren und aushalten kann. Welch zerklüftete Beziehungen zwischen einzelnen Spielern das Mannschaftsgefüge formte und letztlich das Spiel auf dem Platz beschwerte, testete Britvec, indem er mit Hilfe eines Fragebogens ein Soziogramm erarbeitete. Wofür sollte die Grüne Tulpe grundsätzlich stehen? Abgefragt wurden da bevorzugte Spielweise, Idole aus der Bundesliga, präferierte Mitspieler und Wunschelf.
Daraus ergab sich ein Bild einseitiger Sympathien, spielerischer und freundschaftlicher Zentren und letztlich möglicher und unmöglicher Grundaufstellungen. Die Analyse war schnell klar: Die Tulpe brauchte eine Mischung aus eisernem Besen, genialem Strategen und liebevollem Pädagogen. Fairness, Freiheit und Solidarität sollte diese Mannschaft einst atmen. Aus Egozentrikern sollten Individualisten werden, die zum Kollektiv beitrugen. Und sie wurden…
Es wurde niemand hinaus geworfen, im Gegenteil: Die Tulpe öffnete sich weiter. Das wirklich Erstaunliche ist, dass von der resultierenden "Stammelf" die Hälfte noch immer den heutigen Stamm der Tulpe bilden, während die schwierigeren Charaktere noch eine Weile dabei blieben, aber sich dann selbst anders orientierten. Die Netzwerke auf dem Feld wirkten auch in anderen Grünen Kreisen unterstützend. Viele Tulpen sind noch immer Grüne, aber arbeiten längst in anderen Funktionen und Städten. Insofern war eine Öffnung schon aus Gründen einer ausreichenden Kadergröße notwendig.
Einen ersten wichtigen Schritt auf diesem steinigen Weg machte der damalige Praktikant Kristoffer "Toffi" Born. Er holte die Mayer-Brüder Hartwig und Martin und Asgar Ergin in die Mannschaft. Das vergrößerte nicht nur spielerische Möglichkeiten, sondern erhöhte auch die Integrationskraft der Mannschaft.
Die Tulpe wurde nun disziplinierter, aber auch egalitärer im Umgang miteinander. Lautstarke Proteste gegen Auswechslungen des Trainers wurden von den Spielern selbst sanktioniert. Die Mannschaft wuchs zusammen zu einer echten Einheit. Die Spieler verbanden nicht mehr gelungene Pässe, sondern tragfähige Freundschaften.
Und so wurden – ganz im Gestus der alten 68er-Revolutionäre, die längst zum Establishment der Gesellschaft geworden waren – aus den alten Schwächen die neuen Stärken: Das mannschaftliche Gefüge ist heute die größte Stärke der Tulpe, ihre Eingespieltheit gegen stärkere Einzelspieler, ihre Kompaktheit gegen physisch überlegene Mannschaften, ihr Zusammenhalt auf und neben dem Platz gegen die ewigen Meckerer und Nörgler.
Letztlich wurden diese Werte zur Basis aller weiteren Entwicklungen. Es folgten legendär erfolgreiche Jahre. In der Saison 2004 wurden 34 Spiele ausgetragen, von denen 26 gewonnen wurden – ein Punkteschnitt, den selbst Meister nur in Ausnahmejahren erreichen. Im Schnitt erzielte die Tulpe pro Spiel vier Tore und stand am Ende bei 80 Punkten und 136:75 Toren.
Und es gab Sicherheit. Diese Mannschaft würde nicht einfach auseinander fallen. Was sie nicht konnte, das wollte sie lernen. Daran erinnerten sich die Spieler gegenseitig vor und während des Spiels und in der Halbzeitpause. So wurde auch das Spiel immer besser, moderner und überlegener.
Und wenn heute mal wieder mit langen Pässen ein Tor geschunden wird und eine knappe Führung über die Zeit gerettet wird, dann schwören sich danach alle, dass sie es beim nächsten mal wieder besser machen wollen, eleganter – eben irgendwie wie im Sommermärchen.