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Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose

  • Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose ist die Grundlage für Entscheidungen über künftige Milliardeninvestitionen für Verkehrswege.
  • In Hinblick auf verfehlten Klimaschutz im Verkehrssektor ist das prognostizierte Wachstum eine Hiobsbotschaft.
  • Es braucht eine veränderte Zielprognose, die Klimaschutz einpreist und Verkehrsprojekte überprüft.

Berlin Mitte am Mittag des 3. März 2023: Draußen machen die Demonstrant*innen von Fridays For Future gemeinsam mit Verdi mobil. Auf ihren Plakaten stehen Slogans wie „Autobahn in die Klimahölle“. In ganz Deutschland demonstrieren an diesem Tag 280.000 Menschen für Klimaschutz im Verkehr. Drinnen stellt Bundesverkehrsminister Volker Wissing zum selben Zeitpunkt die „Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose“ vor. Dabei beschreibt er ein düsteres Bild der Zukunft der Mobilität in Deutschland. Die Prognose, die ihm seine Gutachter*innen erstellt haben, ist eine Analyse wie der Verkehr in Deutschland im Jahr 2051 aussehen wird, wenn alles so weiter laufen würde wie bisher. Die Kernbotschaft lautet, dass vor allem der Straßenverkehr mit großen Lastkraftwagen weiter überproportional zunehmen wird. Wissings Power Point Präsentation untermauert damit unweigerlich die Botschaft der Demonstrierenden.

Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose

Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose ist die Grundlage für Entscheidungen über künftige Milliardeninvestitionen für Verkehrswege. Ihre Aufgabe ist es, einen ersten Hinweis darauf zu geben, welche Straßen-, Schienen- und Wasserrouten besonders beansprucht werden. Darüber hinaus prognostiziert sie wie sich Verkehrsströme entwickeln, wenn Wirtschaft und Bevölkerung ab- oder zunehmen und die politischen Parameter unverändert fortbestehen würden. Da heutzutage der Straßenverkehr den größten Stellenwert einnimmt, kommt die Prognose wenig überraschend zu dem Schluss, dass insbesondere die Straßeninfrastruktur erweitert werden muss. Seit jeher ist diese Art der Prognosen als reine Trendfortschreibung angelegt. Das Gutachten aus dem Hause Wissing vermittelt den Eindruck, als sei dies ein unumstößliches Naturgesetz. Eine Zukunft die alternativlos so eintreten wird.

Verkehr mit Lastwagen soll um 54 Prozent zunehmen

Konkret rechnet die Langfristprognose vor, dass der Personenverkehr bis zum Jahr 2051 um 13 Prozent und der Güterverkehr sogar um 46 Prozent zunehmen könnten. Der Lkw soll dabei um satte 54 Prozent zulegen, die Güterbahnen nur um 33 Prozent und die Binnenschifffahrt würde stagnieren. Für den prozentualen Anteil der einzelnen Verkehrsmittel an der gesamten Verkehrsleistung würde das bedeuten, dass der Laster seinen Anteil von heute bereits 73 Prozent auf 77,5 Prozent hochschraubt. Die Bahn würde laut der Prognose in den nächsten knapp 30 Jahren sogar Anteile verlieren von heute 19 Prozent auf nur noch 17,3 Prozent. Und das obwohl ein einziger Güterzug mehr als 50 Lkw-Fahrten ersetzen kann. Zudem wurde als Koalitionsziel festgelegt, den Anteil der Schiene auf mindestens 25 Prozent bis 2030 zu erhöhen - die Prognose widerspricht hier deutlich. Auch beteuert Wissing immer wieder, dass die Fahrgastzahlen der Bahn bis 2030 verdoppelt werden sollen. Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose geht allerdings davon aus, dass bis 2051 gerade mal eine Zunahme von rund 50 Prozent des Personenverkehrs auf der Schiene erwartet werden kann. Und selbst das erscheint euphemistisch, schenkt man den aktuellen Meldungen zum Deutschlandtakt Glauben. Die Wissing-Gutachter*innen gehen nämlich davon aus, dass der nötige vordringliche Ausbaubedarf für einen attraktiven Deutschlandtakt bis 2036 umgesetzt ist. Doch die neuen Bahnstrecken werden mindestens 100 Milliarden Euro kosten, bisher aber werden nur rund zwei Milliarden pro Jahr bereitgestellt. In diesem Tempo werden Ausbau und vollständige Umsetzung des Deutschlandtakts bis zum Jahr 2070 andauern, wie kürzlich der Verkehrsstaatssekretär Michael Theurer (FDP) einräumte.

Klimaschädlicher Flugverkehr soll um weitere 68 Prozent wachsen

In Hinblick auf den bisher verfehlten Klimaschutz im Verkehrssektor wäre ein solch starkes weiteres Wachstum im Bereich Straße schon schlimm genug, noch dramatischer ist aber die gesamte Verteilung der Zunahme des Verkehrsaufkommens. Allein der klimaschädliche Flugverkehr soll um weitere 68 Prozent wachsen und damit stärker als jede andere Art der Fortbewegung. Im Fußverkehr hingegen rechnen die Gutachter*innen sogar mit einem Rückgang um acht Prozent. Auch beim klimafreundlichen Radverkehr fällt das in der Prognose erwartete Wachstum bis 2051 massiv hinter den bisher avisierten Verlagerungs- und Klimazielen der Bundesregierung zurück. Eigentlich hat sich die Koalition darauf verständigt, dass bis 2030 die Verkehrsleistung durch das Fahrrad auf 82 Milliarden Personenkilometer ansteigt. Das wäre eine Verdopplung der heutigen Fahrleistung. Die Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose geht wider Erwarten aber bis 2036 nur von 47 Milliarden und bis 2051 gerade mal von 54 Miliarden Personenkilometer im Radverkehr aus. Warum die Wissing-Gutachter*innen nicht nur den Koalitionsvertrag der Ampel, sondern auch sämtliche weitere bereits beschlossenen Ziele der Bundesregierung schlicht ignorieren, bleibt offen. Vielleicht, weil Wissing die Vereinbarungen des Koalitionsvertrags bisher nicht umsetzt, die Gutachter*innen also mit realistischen Daten rechnen und sehen: Es passiert nichts, was auf eine Verkehrswende hindeutet.

Grüne Einordnung der Gleitenden Langfrist-Verkehrsprognose

Für uns als grüne Bundestagsfraktion ist klar, dass diese Prognose allenfalls als Horror-Szenario für die Zukunft gelten kann. Zumal sie die schädlichen Klimafolgen weiter stark wachsender Lkw-Transporte nicht hinreichend in ihrer Kalkulation berücksichtigt. Wir verstehen die Prognose deshalb als mahnenden Weckruf an den Bundesverkehrsminister Wissing, sich endlich für echten Klimaschutz im Verkehr einzusetzen. Wir müssen jetzt umsteuern und die Infrastruktur so weiterentwickeln, dass sie das Klima schont und nicht zerstört.

Zuallererst brauchen wir endlich eine veränderte Zielprognose, die aufzeigt, was notwendig ist, um die im Gesetz verankerte Klimaneutralität im Verkehrssektor zu erreichen. Das beinhaltet zum einen, dass ein Zukunftsszenario die bereits beschlossenen Ziele der Verkehrsverlagerung einpreist. Zum anderen braucht es realistische Annahmen über zukünftige Kosten für erneuerbaren Strom sowie dessen Verfügbarkeit. Die vorgestellte Langfristprognose lässt völlig offen woher die unterstellten immensen Strommengen für einen wachsenden und dennoch klimaneutralen Straßenverkehr überhaupt kommen sollen. Neben dem Verkehrssektor werden schließlich auch im Wohnungssektor für Wärmepumpen oder im Industriesektor für nachhaltige Produktion riesige Mengen erneuerbarer Energie benötigt werden. Da die Herstellung von E-Fuels selbst sehr viel Energie benötigt, sind auch sie bei ihrem geringen Wirkungsgrad keine echte Alternative.

Ausgehend von einer modifizierten klima- und umweltgerechten Langfristprognose müssen auch die Kurz-und Mittelfristprognosen so angepasst werden, dass heutige Investitionen in den Umbau des Verkehrssystems fließen.

In einem finalen Schritt müssen alle Verkehrsprojekte, für deren Planung und Umsetzung der Bund zuständig ist, überprüft und neu priorisiert werden. Dafür bietet sich die aktuell stattfindende sogenannte Bedarfsplanüberprüfung des Bundesverkehrswegeplans an. Projekte, von denen wir heute schon wissen, dass sie das Klima und die Umwelt nachhaltig schädigen, weil sie Naturraum zerstören und mehr Verkehr produzieren, dürfen nicht weiter verfolgt werden.

Eine kurze Begriffserklärung

Bundesverkehrswegeplan (BVWP): Planungsinstrument des Verkehrsministeriums für den Aus- und Neubau von Straßen, Schienen und Wasserwegen. Der Plan hat keinen Gesetzescharakter.

Bedarfsplan Straße: Das sogenannte Fernstraßenausbaugesetz (FStrAbG) regelt wie Straßen gebaut werden. Der Bedarfsplan Straße ist ein Anhang zu diesem Gesetz. In ihm befinden sich alle Straßenbauprojekte aus dem BVWP.

Bedarfsplanüberprüfung (BPÜ): Die Bedarfspläne werden nach §4 des FStrAbG alle fünf Jahre überprüft. Dabei wird geschaut, ob die Bedarfspläne an die zwischenzeitlich eingetretene Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung anzupassen sind oder nicht. Die aktuelle Überprüfung soll 2023 abgeschlossen sein. Die Überprüfung wird allein vom Bundesverkehrsministerium auf Gesamtplanebene durchgeführt. Eine Bewertung einzelner Projekte findet nicht statt. Grundlage für die Bewertung ist die sogenannte Basisprognose. Sie basiert auf einem Kriterienkatalog von 132 Prämissen, die allein vom Bundesverkehrsministerium und seinen Gutachtern erarbeitet wurden. Auch die Bewertung und Gewichtung der Prämissen wird allein vom Bundesverkehrsministerium durchgeführt. Dem Bundestag wird das Ergebnis der Bedarfsplanüberprüfung vorgelegt.

Gleitende Langfrist-Verkehrsprognose: Sie wurde 2023 erstmalig erstellt. Sie stellt eine Prognose einer langfristigen Zeitreihe zur Abbildung der Entwicklungen im Zeitverlauf dar. Neben ihr gibt es die sogenannte Gleitende Mittelfristprognose und die Strategische Langfristprognose. All diese Formate haben unterschiedliche Erkenntnisziele. Sie haben zwar alle keinen direkten Einfluss auf die derzeit stattfindende Basisprognose, sind aber mittelbar deren Grundlage.

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