Rede von Johannes Wagner Orientierungsdebatte zur Impfpflicht
Johannes Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
Dieser Imperativ von Hans Jonas ist eine meiner Leitmaximen bei meinem Engagement der letzten Jahre. Gerade das hat mich auch motiviert, ein wissenschaftliches Studium zu beginnen und mich meiner Leidenschaft zu widmen: dem Menschen.
Im Studium der Humanmedizin habe ich nicht nur gelernt, valide Statistiken zu bewerten und Symptome zu behandeln, sondern immer auch ethische Aspekte mitzudenken. Deshalb betrachte ich die Debatte zur Impfpflicht nicht nur aus medizinischer Perspektive, sondern beleuchte ebenfalls die Verantwortung von Politik und Gesellschaft.
In meiner Einleitung habe ich mich auf Jonas bezogen, der die Solidarität eines jeden Individuums in die Pflicht nimmt, um das Gegenüber zu schützen. Denn Freiheit hört da auf, wo man die Freiheit anderer einschränkt.
Gesundheit wurde viel zu lange zur Privatangelegenheit erklärt, in die sich niemand einzumischen habe. Schon gar nicht die Politik. Im Namen der Freiheit wird sehr viel Energie darauf verwendet, für ein Recht auf ungesundes Leben zu kämpfen. Aber unsere persönliche Gesundheit lässt sich nicht von der Gesundheit unserer Nachbar/-innen oder der unseres Planeten trennen. Aus meiner Sicht gibt es wenig Demokratischeres als diesen Solidaritätsgedanken.
Aller Wahrscheinlichkeit nach werden wir das Virus nie wieder ganz loswerden, und auch in Zukunft wird es neue Infektionswellen geben. Gerade deswegen ist eine hohe Impfquote jetzt wichtig, um für kommende Wellen gewappnet zu sein.
Ja, auch aus Selbstschutz, aber vor allem aus Solidarität gegenüber vulnerablen Gruppen und um die Überlastung des Gesundheitssektors nicht noch weiter zu verschärfen. Denn: Was wären die Alternativen? Andauernde Kontaktbeschränkungen? Den Tod vieler Menschen in Kauf nehmen, um eine Herdenimmunität durch Durchseuchung zu erreichen? Für mich sind das keine validen Optionen.
Ich mache mir große Sorgen, dass wir auch im nächsten Winter wieder in eine massive sechste Welle rauschen, wenn wir jetzt nicht handeln. Angesichts der hohen Infektiosität der neuen Virusvarianten brauchen wir dringend eine höhere Impfquote. Denn gerade bei den besonderen Risikogruppen ab 60 ist die Impflücke mit deutlich fast drei Millionen Ungeimpften noch viel zu groß. Eine weitere Welle hätte dramatische Konsequenzen für das Gesundheitswesen und die Gesundheitsversorgung und natürlich auch für alle anderen Menschen, die unter Kontaktbeschränkungen leiden, insbesondere Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen.
Da die bisherige Impfkampagne leider eine ausreichende Impfquote nicht erreicht hat, halte ich eine allgemeine Impfpflicht für unausweichlich.
Die Skepsis gegenüber der Impfung und somit auch gegenüber der Wissenschaft ist ernst zu nehmen. Verantwortliche Politik und Wissenschaftskommunikation muss dem durch Aufklärung und Gespräche entgegenwirken. Deswegen bedeutet eine Impfpflicht auch mehr Kommunikation und nicht weniger Kommunikation.
Politik sollte präventiv auf die pandemische Situation wirken und nicht reaktiv, wenn es schon zu spät ist. Und deswegen plädiere ich als Mediziner und als überzeugter Demokrat für die Impfpflicht.