Rede von Annalena Baerbock Organspende
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- Gesundheit
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste auf der Tribüne! Wir sind heute hier, um Leben zu retten. Das eint beide Gesetzentwürfe. Beiden Gesetzentwürfen sind intensive Gespräche mit Betroffenen, mit Krankenhäusern, mit Ärztinnen und Ärzten, mit Angehörigen und mit vielen, vielen Menschen in diesem Land vorausgegangen. Aber diese Debatten haben uns allen eben auch noch mal verdeutlicht, dass das Leben und der Tod so vielfältig, so unterschiedlich sind wie wir Menschen selbst.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD und der Abg. Christian Hirte [CDU/CSU] und Christine Aschenberg-Dugnus [FDP])
Deswegen kann es aus unserer Sicht nicht nur diese eine Sichtweise auf die Organspende geben, die dann vielleicht auch noch der Staat verordnet.
Nein, es gibt vielfältige Sichtweisen. Eltern – das haben einige zu Recht angesprochen – warten jeden Tag händeringend auf dieses eine Organ für ihr Kind. Das kann man sich als Nichtbetroffene kaum vorstellen. Es gibt aber auch die Ehefrau, die Mutter, die jahrelang auf ein Herz wartet, die aber sagt: Wenn ich nicht weiß, dass dieses Herz freiwillig gespendet wurde, dann will ich gar nicht mehr auf der Transplantationsliste sein. – Da sind die Angehörigen. All diese Sichtweisen müssen wir respektieren, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN und der Abg. Christine Aschenberg-Dugnus [FDP])
Daher hat unsere Gruppe einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende vorgelegt, der zum einen die Spenderzahlen, zum anderen aber vor allen Dingen – das ist der entscheidende Unterschied – die De-facto-Transplantationszahlen in den Krankenhäusern in den Blick nimmt. Darum geht es am Ende doch: Es geht darum, Leben zu retten – und das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen zu wahren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Ich weiß: Wir versuchen hier heute alle unser Bestes, aber ich sage zu den Argumenten, die von Vorrednern vorgebracht wurden: Aus meiner Sicht verkennt die Widerspruchsregelung, dass man nicht einfach Regelungen aus anderen Ländern auf die deutsche Situation, auf die Rechtslage und die Situation in den Krankenhäusern, übertragen kann. Man verkennt damit die Realität hier bei uns in Deutschland, und darum geht es.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN und der Abg. Hilde Mattheis [SPD])
Erstens. In anderen europäischen Ländern – darauf werden andere Rednerinnen und Redner noch eingehen – gilt der Herztod als ausreichend, in Deutschland nicht. Deswegen können Sie diese Zahlen nicht vergleichen. Niemand will daran hier im Hohen Hause etwas ändern.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Zweitens. Herr Lauterbach, Sie verweisen immer auf Spanien. Sie wissen aber ganz genau: Die Situation in Spanien – der gesamte Gesundheitsausschuss war da – ist so anders,
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Davon redet doch niemand!)
weil sich dort in den Krankenhäusern etwas verändert hat. Wissen Sie, was unser Problem in den Krankenhäusern ist, selbst wenn alle Menschen Spenderinnen und Spender wären? Nur von 8,2 Prozent derjenigen, die in Krankenhäusern für hirntot erklärt worden sind, wurden überhaupt Organe transplantiert – weil sie nicht gemeldet wurden. Da müssen wir ran. Wenn wir diese Zahlen verdreifachen, haben wir genug Organe, sehr verehrte Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Der dritte Punkt – darauf werden Kollegen aus unserer Gruppe noch eingehen – ist unser Grundgesetz, und das gilt nun einmal nicht in anderen europäischen Ländern. Die haben ihre eigene Geschichte. Die haben ihre eigene Verfassungsgeschichte. Unsere Verfassungsgeschichte schreibt in Artikel 1 und 2 zu Recht die aus unserer Geschichte hervorgegangene besondere Verantwortung in unser Grundgesetz.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gucken Sie mal nach Österreich, was da passiert!)
Da gilt es, das Selbstbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen zu respektieren, meine sehr verehrten Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Deswegen muss man immer das mildeste Mittel wählen, um an das Ziel zu kommen. Wir haben das gleiche Ziel: Leben retten. Wir wählen aber ein anderes Mittel.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unwirksam!)
Ich möchte deutlich machen – denn das wird sicherlich in der Debatte noch kommen –: Wir verteidigen hier nicht den Status quo. Wir verteilen nicht einfach mehr Infobroschüren. Nein! Unsere Gesellschaft ist solidarisch. 84 Prozent der Menschen wollen spenden,
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das sagen Sie seit zehn Jahren!)
aber nur 40 Prozent haben einen Ausweis. Diesen 84 Prozent wollen wir ermöglichen, sich ganz einfach zu registrieren. Es ist ein großer Unterschied, ob ich einen Pappausweis im Portemonnaie habe, das ich nicht dabei habe, wenn ich ein Kleid trage, oder – das ist unser Vorschlag – ob ein Onlineregister geschaffen wird, in das sich jeder eintragen kann.
Ich weiß, dass gleich vom Bürgeramt die Rede sein wird. Ja, in manchen Bürgerämtern ist es nicht schön; in anderen ist es das aber. Da bekommt man alle Informationen. Man muss sich aber nicht vor Ort informieren. Man kann zum Hausarzt gehen, und man kann vor allen Dingen nach Hause gehen und sich nach intensiver Debatte online jederzeit, jede Minute, jede Stunde registrieren. Das ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Vorschlages, sehr verehrte Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Er ist so wichtig, weil dieser Dreh- und Angelpunkt an der Situation in den Krankenhäusern etwas verändert, weil die Ärztinnen und Ärzte sofort auf das Onlineregister zugreifen können. Sie müssen nicht fragen: Hat der Patient einen Organspenderausweis? Sie müssen nicht die Angehörigen fragen: Wie war es denn noch mal? Sie können direkt darauf zugreifen. Damit ändert sich an dem Hauptproblem, nämlich dass zu wenig gemeldet und transplantiert wird, in der Realität wirklich etwas, sehr verehrte Damen und Herren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Wir stimmen hier heute über eine hochethische Frage ab: Wie kommen wir zu mehr Transplantationen? Wie retten wir mehr Leben? Wir stimmen aber auch darüber ab: Wem gehört der Mensch? In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der Gesellschaft. Er gehört sich selbst,
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist doch unstreitig!)
ungefragt, ohne Widerspruch. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zur Entscheidungslösung, um mehr Menschenleben hier gemeinsam zu retten.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)
Präsident Dr. Wolfgang Schäuble:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)