Foto von Katrin Göring-Eckardt MdB
16.05.2024

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 75 Jahre Grundgesetz, das heißt auch 35 Jahre Friedliche Revolution – ein Grund, stolz zu sein. Denn vor 35 Jahren begann das Neue, das Ganze: Einigkeit und Recht und Freiheit für alle in unserem Land. Dass dies manchmal ein bisschen vergessen wird, hat vielleicht unterschiedliche Gründe. Oder stimmt es vielleicht doch, dass vor 35 Jahren das mit den Ostdeutschen eher als eine Erweiterung verstanden worden ist und nicht als ein gemeinsames Neues, ein Neuanfang auf Augenhöhe?

Das Grundgesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nach der größten Katastrophe der deutschen Geschichte entstanden, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah. Der Patriotismus von damals hieß: Nie wieder! – Heute ist dieser Patriotismus wieder gefragt: die Liebe zu unserem Land mit einer Verfassung, die verbindet und bindet an die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, die unzerstörbare Freiheit eines jeden und einer jeden, egal welchen Vornamens.

Ja, wir sind verschieden, und das ist gut so.

(Beifall des Abg. Muhanad Al-Halak [FDP])

Die Verfassung gilt. Sie gilt für Bauer Axel aus der Ex-LPG, sie gilt für die alleinerziehende Alisha, sie gilt für Marianne aus dem Schwarzwald, für Opa Ernst und für Nemo aus Berlin.

(Stephan Brandner [AfD]: Ich kenne die alle gar nicht! Wer ist denn das?)

– Herr Brandner, weil Sie gerade wieder anfangen, reinzurufen – es steht ja wieder eine Frau am Redepult –:

(Stephan Brandner [AfD]: Ach so!)

Während Sie hier schwadroniert haben und schmierige Reden über Ihren Nationalstolz gehalten haben,

(Stephan Brandner [AfD]: Wann habe ich das denn gemacht?)

werden wegen Schmiergeld die Büros von Herrn Bystron in diesen Minuten untersucht, weil er der verlängerte Arm des Kremls ist.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Richtig! So ist es!)

Das ist Verrat an unserem Land, und den begehen Sie jeden verdammten Tag.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, unsere Verfassung ist kein Verdienst.

(Stephan Brandner [AfD]: Achten Sie auf die Redezeit!)

Ich empfinde sie sogar als Geschenk und als Aufgabe. Da steht: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“ Und da würden wir heute nicht sagen: Das ist fromm gemeint. – Nein, gemeint ist damit: Nicht alles ist verfügbar, planbar oder gar kaufbar. – Als Kind der Diktatur sage ich: Das ist wunderbar, und das ist würdig und recht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Lage, in der wir leben, ist zu krass und zu kontrovers und zu kompliziert, als dass sich jemand zurücklehnen und sagen könnte: Politik, mach mal! – Wir als Politikerinnen und Politiker können auch nicht sagen: „Wir machen das mal für euch“, sondern es geht darum, die Probleme zu benennen, sachlich zu streiten, ehrlich nach Lösungen zu suchen, „nach der Stadt Bestem“, wie es altmodisch heißt, als Bürgergesellschaft erwachsen miteinander zu reden und auch nicht den Eindruck zu erwecken, dass man alles, was mal schwer ist, weghandeln oder wegkaufen könnte.

Verfassungspatriotismus heute, das heißt auch, festzustellen: Wir haben ziemlich viel zusammen geschafft. – Wir sind beim ESC vom letzten auf den zwölften Platz gekommen. Wir können auch sehr große Veränderungen ziemlich gut überstehen, globale, nationale oder auch etwas kleinere Dinge wie, dass Bayern München nicht Meister geworden ist.

(Beifall des Abg. Dirk Wiese [SPD] – Dirk Wiese [SPD]: Gott sei Dank!)

Es ist so, dass wir in Deutschland immer gern das Defizit beschreiben, das, was nicht gelingt, das Unvollständige, und immer sind dann die anderen schuld. Ich glaube, es wäre ganz gut, dass wir angesichts dieser 75 und 35 Jahre uns auf das besinnen, was uns gelungen ist, was uns gemeinsam gelungen ist.

Jetzt wird es um unsere Freiheit gehen, um den Wohlstand der Zukunft. Denn die erhitzte Erde bedroht das demokratische Gemeinwesen, unser Land, genauso wie die Feinde von innen. Das Gericht, das unsere Verfassung bewacht, hat das zweifelsfrei aufgeschrieben. Es geht um unsere Resilienz als Gesellschaft und um die der Verfassung – ja, beides stimmt. Und die Umbrüche, die wir in Ostdeutschland erlebt haben, sind eigentlich ein ganz guter Ratgeber dafür, und die Menschen, die sie erlebt haben und die gezeigt haben, was geht, sind es auch.

Jede Demokratie, meine Damen und Herren, ist so stabil wie ihre Demokratinnen und Demokraten – die „Omas gegen Rechts“, Tausende auf Demos, zwei oder drei oder zwanzig auf dem Dorf und die eine, die sich trotz Pöbeleien und Anfeindungen entschieden hat, wieder für ein politisches Ehrenamt zu kandidieren. Vernunft und Empathie, Neuanfang, die Gabe, Fehler zu korrigieren – das sind wahrlich gute Gründe, 75 und 35 Jahre zu feiern.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Aydan Özoğuz:

Der nächste Redner ist Dr. Thorsten Lieb für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)