Rede von Lamya Kaddor Aktuelle Stunde "Unruhen in Frankreich"
Lamya Kaddor (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wahrheit tut weh. Aber ich kann und will es uns allen nicht ersparen, dass ich nicht mit Scheuklappen auf die Ausschreitungen in Frankreich schaue. Man könnte sich hierhinstellen und das Hohelied der Hetzer und Aufwiegler und Einpeitscher singen und nur von Randalierern erzählen, die abgeschoben gehören, deren Kultur nicht zu uns passt, die sich nicht integrieren wollen und undankbar gegenüber der Mehrheitsgesellschaft sind.
(Beifall bei Abgeordneten der AfD)
Vielleicht trifft das sogar auf einige der Delinquenten zu. Aber die Wahrheit ist komplexer – mit „komplex“ können Sie ja nichts anfangen –, und deshalb tut sie weh.
Nichts rechtfertigt diese Gewalt, diese Plünderungen, diese Zerstörungswut.
(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])
Was uns alle eint, ist, dass wir solche Szenen nicht erleben möchten. Wir wollen nicht, dass ein flüchtender Jugendlicher von einem Polizisten erschossen wird. Wir wollen nicht, dass ein Rechter ungebeten für die Familie des Polizisten 1 Million Euro sammelt. Wir wollen genauso wenig Gewaltausschreitungen, Übergriffe und Plünderungen. Zu den schrecklichen Ereignissen kommt, dass gestern ein weiterer Mensch bei Unruhen in Marseille, möglicherweise durch ein Gummigeschoss eines Polizisten, ums Leben kam.
Also, was können wir tun, um so etwas dauerhaft und effektiv zu verhindern? Wir müssen die Hintergründe der Menschen auf den Straßen erkennen; denn sie kommen nicht aus dem Nichts. Ihnen vorausgegangen sind Geschichten, die man kennen muss: Geschichten von Abwertung, Geschichten von seelischen Verletzungen, Geschichten vom Ausgestoßensein. Wer solche Geschichten immer und immer wieder aufs Neue erlebt, ja sogar über Eltern und Großeltern vererbt bekommt, dessen Grenzen sind irgendwann erreicht. Irgendwann platzt die Wut heraus.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie rechtfertigen das noch! Das ist doch Blödsinn!)
– Es gibt einen Unterschied zwischen Erklären und Rechtfertigen, aber den kennen Sie wahrscheinlich gar nicht. – Frankreich erlebt ein ähnliches Momentum wie die USA nach dem Tod von George Floyd.
In Frankreich haben rassistische und rechtsradikale Diskurse sehr viel Platz bekommen in den vergangenen Jahren. Der Einfluss sozialer Netzwerke wie Tiktok ist allerdings alarmierend. Filmszenen aus Actionfilmen kursieren als vermeintlicher Beleg für die Dramatik der Ausschreitungen. Ich möchte fragen: Cui bono? Wem nützen diese mit Absicht ins Netz gespülten Falschmeldungen? Den Jugendlichen jedenfalls nicht.
Man kann in Frankreich studieren, was passiert, wenn man die Tabubrüche der Rechten akzeptiert. Viele Forderungen der Rechtspopulistin Marine Le Pen wurden in den letzten Jahrzehnten übernommen und sind inzwischen salonfähig, ja allgemeiner Konsens.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Vor Jahrzehnten war Frau Le Pen noch gar nicht in der Politik!)
Die Spaltung der französischen Gesellschaft ist jetzt da. Und ich kann uns nur warnen, diesen Weg zu gehen – wie manche, zum Teil auch die CDU-Ministerpräsidenten, es sich gerade wünschen.
(Zuruf von der SPD: So ist es!)
Es ist auch unsere Aufgabe, unsere Gesellschaft zusammenzuhalten. An dieser Stelle ist das auch eine Lehre für uns hier in Deutschland.
Plumpe Vergleiche und Kommentare, die ähnliche Krawalle hierzulande heraufbeschwören – das haben wir ja gerade gehört –, sind indes Teil des Problems. Allein der postkoloniale Diskurs in Frankreich ist mit Deutschland nicht zu vergleichen. Unsere Geschichte verbindet uns, ja, aber sie ist nicht die gleiche und kann somit auch nicht gleich bewertet werden.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Postkolonialismus schürt Hass? Das ist gut!)
Neben den juristischen Konsequenzen für die jeweiligen Täterinnen und Täter muss man diese historischen und kulturellen Erfahrungen einbeziehen, wenn man Aufständen von Bevölkerungsgruppen effektiv und rechtsstaatlich vorbeugen will. Wenn es um Menschen geht und auch um Gesellschaften, gibt es keine eindimensionalen Antworten. Für niemanden, niemals und nirgends, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar, dass das vielen völkischen Nationalisten nicht gefällt. Warum sollten sie sich die Chance entgehen lassen, ihre rechte Ideologie voranzutreiben? Deshalb haben sie auch keine rechtsstaatlichen und seriösen Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund rebellieren, schieben Sie es auf Kultur, Religion, Herkunft, mangelnde Integration.
(Enrico Komning [AfD]: Abschieben!)
– Abschieben. – Wenn Menschen ohne Einwanderungsbiografie rebellieren, spielt das alles plötzlich keine Rolle mehr.
Frankreich und seine Bürgerinnen und Bürger sind bekannt für ihre Rebellionskraft; aber bei sogenannten Zuwanderern, übrigens längst in der vierten Generation – ab wann ist man eigentlich kein Zuwanderer mehr? –, lässt man sie nicht gelten. Wo war die Kulturalisierung bei den Ausschreitungen der Gelbwesten? Sie wurden schlicht als Volksaufstand gegen „die da oben“ geframt.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was ganz anderes!)
– Genau. – Bei diesen Protesten ist es uns gelungen, Beteiligte und ihre Motive nicht zu verallgemeinern, sie nicht als „fremd“ zu labeln oder gar diese Menschen als geschlossene, homogene Gruppe abzuwerten.
Für eine grundsätzliche Bewertung dieser Krawalle – und mehr steht uns aus dem fernen Deutschland eigentlich auch gar nicht zu; denn am deutschen Wesen soll die Welt eben nicht genesen, wie es Altbundespräsident Theodor Heuss 1952 erklärt hat –
(Lachen bei Abgeordneten der AfD)
muss man kein Kenner der französischen Geschichte sein. Die Dynamik der Unzufriedenheit ist universell. Unzufriedene gibt es immer, ganz egal, welchen Hintergrund sie haben. Wir finden sie in allen Ländern, wir finden sie in Sonneberg, Cottbus und Chemnitz, wir finden sie in Duisburg, in Essen, in Neukölln.
Die Marschroute ist klar: Ungerechtigkeiten müssen wir ansprechen. Wir müssen in unserer westlichen Welt für soziale Gerechtigkeit für alle sorgen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, sexueller Orientierung, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, Religion oder Herkunft. Wir müssen kriminelle Ausschreitungen verurteilen, ohne dabei Stigmata zu reproduzieren.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Gökay Akbulut das Wort.
(Beifall bei der LINKEN)