Rede von Lisa Paus Aktuelle Stunde: Silvester
Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Curio, dass Sie und die AfD rassistisch sind, das wussten wir zwar schon vorher, aber es ist immer wieder von Neuem widerwärtig, das hier auch im Deutschen Bundestag erleben zu müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Stephan Brandner [AfD]: Sie sind Ministerin! Halten Sie sich zurück!)
Ich möchte heute auch die Zuhörenden begrüßen, vor allem Jugendliche, Eltern, Erzieher/-innen, Pädagoginnen und Pädagogen, die Akteurinnen und Akteure der Sozial-, der Kinder- und Jugendarbeit. Denn wenn wir heute hier auf Antrag der Union über die situativen Gewaltexzesse in der Silvesternacht sprechen, dann steht über allem: Diese Angriffe auf die Sicherheitskräfte und auf Angehörige von Rettungsdiensten sind unerträglich!
(Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Dass Sie das ablesen müssen! – Stephan Brandner [AfD]: Das ist doch eine Selbstverständlichkeit!)
Ihnen gilt vielmehr unser Dank, wenn sie an Silvester herausfordernde Einsätze fahren, statt selbst mit ihren Familien das neue Jahr begehen zu können, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Ob in Berlin, ob in Borna/Sachsen oder in Essen/Nordrhein-Westfalen oder in anderen Städten, in denen die Lage in der Silvesternacht eskalierte: Ich verurteile diese Gewalt, und die Täter müssen schnell bestraft werden.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP] – Stephan Brandner [AfD]: Ach! – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist doch eine Selbstverständlichkeit! Sagen Sie das!)
Aber ebenso wichtig ist es, dass unsere Debatte versachlicht wird.
(Anke Hennig [SPD]: So ist es! – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Da bin ich mal gespannt!)
Das Bundesinnenministerium hat ein bundesweites Lagebild angekündigt. Warten wir also die Ergebnisse ab und bewerten dann die Tatsachen; ich möchte dem jedenfalls nicht vorgreifen.
(Stephan Brandner [AfD]: Was wollen Sie denn abwarten? Das war doch alles eindeutig! – Weiterer Zuruf von der AfD: Stand doch alles schon in der Zeitung!)
Aber eines steht heute auch ohne das fertige Lagebild bereits fest:
(Stephan Brandner [AfD]: Sie sind einfach ideologieverblendet, Frau Paus!)
Laut Polizeilicher Kriminalstatistik konnten wir in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang der Gewalt im Jugendalter verzeichnen. Das ist für mich als Jugendministerin und für Deutschland insgesamt eine wichtige Botschaft, die in dieser Debatte berücksichtigt gehört.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Stephan Thomae [FDP])
Auch das Deutsche Jugendinstitut, das zu meinem Haus gehört, hat keine Belege dafür, dass junge Menschen insgesamt immer delinquenter und vor allem gewalttätiger werden.
(Beatrix von Storch [AfD]: Stimmt! Nur besondere!)
Wie also kommt es zu solch situativen Gewaltausbrüchen, beispielsweise in der Ultra-Fanszene, in der Vergangenheit bei Randalen rund um den 1. Mai,
(Stephan Brandner [AfD]: Darum geht es jetzt aber gar nicht!)
in der Querdenkerszene, in Stuttgart oder auch in der Schinkenstraße in Palma auf Mallorca? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, es ist einfach so: Die Antwort fällt weitaus komplexer aus, als Sie es uns hier mit dem Titel der Aktuellen Stunde glauben machen wollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Stephan Brandner [AfD]: Nur weil Sie die Wahrheit nicht aussprechen wollen!)
Schon daran zeigt sich die ganze Hilflosigkeit der Debatte, die Sie uns seit zwei Wochen aufzwingen wollen. Sie wollen sie am Köcheln halten, weil Sie, wie wir alle miteinander wissen, vor allen Dingen auf die anstehenden Landtagswahlen in Berlin und später in Hessen und Bayern schielen.
(Josef Oster [CDU/CSU]: Sie mögen die Debatte gar nicht! Sie wollen verdrängen! – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Was ist denn mit Ihrer Aufarbeitung, wenn Sie nicht darüber reden wollen?)
Wenn es um die Ursachen von Jugendgewalt geht, dann liefert uns die Wissenschaft schon heute erste Antworten: Gewalt im öffentlichen Raum geht vor allem – ja – von jungen Männern aus,
(Zuruf von der AfD: Ganz schön gute Stereotype hier!)
und sie findet oft in städtischen Gelegenheitsstrukturen statt,
(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Die Frage ist nur, warum es in Bayern besser läuft!)
und meist sind es Jugendliche in schwierigen Lebenslagen mit individuellen Risikofaktoren. Diese jungen Männer wollen den öffentlichen Raum besetzen, und – ja – das gibt dann auch ein Stärkegefühl.
(Zuruf von der AfD)
Befeuert wird dieses Gefühl oft durch Gruppendynamiken. Logisch: Junge Männer, alkoholisiert, mit Pyrotechnik im Anschlag, da kann man schon entsprechende Adrenalinschübe bekommen.
(Zuruf von der AfD: Ist das so?)
Subjektive Machtfantasien spielen eine Rolle: auf die Spitze getrieben in der Pose, staatliche Organe herauszufordern, sich untereinander zu solidarisieren und die Lage eskalieren zu lassen und damit Aufmerksamkeit einfordern zu können.
Aus einer vorläufigen Analyse für mein Haus betont aber das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, das DeZIM, dass die Silvesterkrawalle eben gerade kein Migrationsthema sind. Es nennt die Migrationsperspektive sogar irreführend, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Das Thema ist komplex. Sie von der Union versuchen, sozialpsychologische Prozesse und auch soziale Fragen zu ethnisieren.
(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Das ist echt unterirdisch! Wirklich peinlich!)
Das ist dumpf, das ist rassistisch,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Wie blind kann man sein!)
und damit werden Sie nur Applaus bei den Falschen ernten.
Sie, Herr Merz, verspielen damit auch das Erbe der ehemaligen Bundeskanzlerin und ja auch Bundesjugendministerin Angela Merkel und rücken die Union damit einfach nur weiter nach rechts.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Josef Oster [CDU/CSU]: Auwei! Einer Ministerin unwürdig!)
Aber eigentlich soll es ja darum gehen, wie wir zu Lösungen kommen. Also: Was können wir, die Politik, der Staat, wirklich tun?
(Stephan Brandner [AfD]: Abschieben! Oder gar nicht erst reinlassen!)
Erstens: aus Erfahrung lernen, kurzfristig einen guten Maßnahmenmix ergreifen und Bewährtes ausbauen. Die Polizei hat ja bereits wirksame Deeskalationsstrategien entwickelt, zum Beispiel durch die jahrelange Erfahrung rund um den 1. Mai in Berlin. Dazu gehört, gezielt und der Lage angepasst zu entlasten. Für Silvester zum Beispiel würden feuerwerksfreie Zonen und lokale öffentliche Feuerwerke – ja – die Lage deutlich übersichtlicher machen. Damit entlasten wir auch die Sicherheits- und Rettungskräfte; deswegen fordern sie das ja auch.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Natürlich bringt das auch mehr Sicherheit für ältere Menschen, für Tiere und für die Umwelt.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Und Pflanzen!)
Zweitens geht es längerfristig um Gewaltprävention. Dieser Ansatz hat sich längst als wirksam erwiesen, auch wenn wir die Strukturen nicht immer mit der nötigen Nachhaltigkeit unterstützen.
(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Wie wäre es mal mit einer besseren Ausstattung der Polizei?)
Auch hier haben wir bereits bewährte Programme – und sie setzen früh an. Ein gutes Beispiel sind die „Respekt Coaches“, ein Programm aus meinem Haus. Sie sprechen in Schulen mit den jungen Menschen über Gewalt und über Demokratie. Diese „Respekt Coaches“ haben bisher eine Viertelmillion Schüler/-innen erreicht.
(Stephan Brandner [AfD]: Und super Ergebnisse erzielt, wie man gesehen hat! Ich würde die alle rausschmeißen!)
Sie werden gut angenommen. Solche Erfolgsstorys wollen wir weiterschreiben, und wir brauchen mehr davon.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP])
Ähnliches gilt für das Demokratiefördergesetz, das wir von der Ampel noch im ersten halben Jahr dieses Jahres verabschieden möchten. Genau dieses Gesetz haben Sie von der Union über viele Jahre verhindert. Wir werden es jetzt umsetzen, meine Damen und Herren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Drittens geht es um die stärkere Teilhabe von Jugendlichen. Sie verdienen Perspektiven, sie verdienen Unterstützung für ein selbstbestimmtes Leben. Ich denke da an eine bessere Zusammenarbeit von Schulen, Kinder- und Jugendhilfe, von Vereinen und Quartiersmanagement. Und ja, dazu gehören Investitionen in die soziale Infrastruktur für junge Menschen. Genau dafür sorgt die Bundesregierung mit dem Programm „Soziale Stadt – Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“, das meine Kollegin Klara Geywitz verantwortet. Die junge Generation, sie braucht Räume, sie braucht Orte – mehr Räume, die sie gemeinsam gestalten kann, wo sie leben und sich orientieren kann
(Stephan Brandner [AfD]: Was ist das für ein Regenbogeneinhorn-Mist! – Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])
und wo sie lernt, Konflikte im geschützten Raum zu lösen, statt sie im öffentlichen Raum auszutragen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Sozialarbeit und Gewaltprävention haben sich bewährt, und gute Sozialarbeit wirkt. Sie macht Menschen stark, die sich sozial benachteiligt und ausgegrenzt fühlen,
(Stephan Brandner [AfD]: Sie erzählen Märchen!)
erst recht, wenn sie selbst Gewalt erfahren haben. Denn es sind die Sozialarbeiter/-innen, die sie in ihrem Frust stoppen, in ihrer Ungeduld oder auch mal in ihrer Einfallslosigkeit oder in ihrer Verführbarkeit.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was hat das denn gebracht?)
Es geht darum, auch den jungen Männern in benachteiligten Quartieren und Stadtteilen Perspektiven und Aufstiegschancen zu bieten
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Mehr haben Sie nicht?)
und zu zeigen, was sie erreichen können, wenn sie es wollen.
(Stephan Brandner [AfD]: Wo sind eigentlich die jungen Frauen gewesen?)
Das müssen und das werden wir jedenfalls weiter unterstützen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Werte Kolleginnen und Kollegen, das Jugend- und Familienministerium nimmt sich der jungen Menschen an, die sich abgehängt fühlen – sehr grundsätzlich und sehr konkret auch nach der Coronazeit. Denn allzu viele Kinder und Jugendliche leiden bis heute darunter, mit den Lockdowns den Anschluss verpasst zu haben und seither nicht gehört zu werden und sich nicht entfalten zu können.
(Stephan Brandner [AfD]: Wer hat den Lockdown denn verhängt?)
Ihnen geben wir mit dem Zukunftspaket für Bewegung, Kultur und Gesundheit, finanziert mit 50 Millionen Euro, die Chance, eigene Ideen umzusetzen und Projektmittel zu beantragen. Ich lade Kommunen und Träger ein, mitzumachen und junge Menschen zu unterstützen.
Noch dazu haben wir als Gesellschaftsministerium das Bündnis für die junge Generation ins Leben gerufen. Gemeinsam mit Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geben wir Kindern und Jugendlichen eine Stimme. Wir schenken ihnen Gehör, wir beziehen sie mit ein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen Klartext reden über die Ereignisse in der Silvesternacht,
(Lachen bei Abgeordneten der AfD – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Das haben wir jetzt gehört! Das war jetzt richtig Klartext! – Stephan Brandner [AfD]: Jetzt ist aber leider die Redezeit um!)
über Ursachen und über Maßnahmen.
(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Das war jetzt echt platt! – Stephan Brandner [AfD]: Das hätten Sie an den Anfang der Rede stellen sollen!)
Vorschnelle Bewertungen, Vorverurteilung gar spalten aber unsere Gesellschaft. Der deutsche Rechtsstaat ist deshalb stark, weil er individuelle Schuld aufarbeitet und ausgleicht. Er ist stark, weil er nicht pauschal vorverurteilt nach Aussehen oder danach, wie jemand mit Vornamen heißt. Der Rechtsstaat schlussfolgert nicht einfach so drauf los.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Machen wir auch nicht!)
Wir alle sind Abgeordnete und Vertreter aller Menschen in Deutschland, und wir sollten uns dieser gemeinsamen Verantwortung für die Jugend in diesem Land bewusst sein.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was für eine Verharmlosung, Nichtlösung, Ideologie! – Stephan Brandner [AfD]: Einfach nur Mist! – Beatrix von Storch [AfD]: Widerlich! Einfach widerlich!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Die Kollegin Gökay Akbulut hat jetzt das Wort für Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)