Die Pandemie als Katalysator
- Gesellschaftlicher Wohlstand kann nicht nur am Bruttoinlandprodukt (BIP) gemessen werden, die Konzentration auf die Wirtschaftsleistung vernachlässigt zu viele Aspekte. Mit dem Jahreswohlstandsbericht erweitern wir daher die klassischen Wirtschaftsindikatoren um weitere ökonomische, ökologische, soziale und gesellschaftliche Faktoren.
- Der inzwischen 4. Jahreswohlstandsbericht setzt den Fokus auf die Quellen unseres Wohlstands im Lichte der Pandemie. Die Corona-Pandemie verändert unseren Wohlstand und unseren Blick darauf - sie brachte so schnell enorme Einschnitte und Veränderungen, wie es vorher kaum vorstellbar war.
- Der Bericht analysiert, wie die ergriffenen Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft wirken. Mit der nun beginnenden wirtschaftlichen Erholung eröffnen sich Chancen, die sozial-ökologische Transformation voranzutreiben.
Jahreswohlstandsbericht 2021
In der klassischen Wohlstandsmessung ist oft allein die Wirtschaftsleistung, also die Waren und Dienstleistungen, die wir herstellen und einkaufen, das Maß aller Dinge. Diese spiegelt sich im Bruttoinlandsprodukt (BIP) wider.
Das BIP allein ist „blind“
Doch das BIP ist „blind“ dafür, ob unser Wirtschaften auch seine sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Quellen erhält oder ob es ihnen Schaden zufügt. Es eignet sich deshalb nicht, um Fortschritte des sozial-ökologischen Wandels, aber auch Fehlentwicklungen und Handlungserfordernisse sichtbar zu machen und muss um weitere Kriterien ergänzt werden. Seit 2015 beauftragt und veröffentlicht die grüne Bundestagsfraktion deshalb regelmäßig einen Jahreswohlstandsbericht. 2019 haben wir den Bericht „Der Status Quo als Risiko“ vorgelegt. Und erstmals in diesem Jahr zeigt nun auch der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, wie es um die Quellen des Wohlstands bestellt ist.
In dieser Reihe legen wir nun schon zum vierten Mal einen Jahreswohlstandsbericht vor, der von unseren Gutachtern Dipl.-Verw. Wiss. Roland Zieschank (Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin) und Prof. Hans Diefenbacher (Universität Heidelberg) unter Mitarbeit von Dorothee Rodenhäuser, M.A. und Dr. Benjamin Held erstellt worden ist.
Aktuell ergibt sich dann für unseren Wohlstand folgendes Bild, für dessen Bewertung vereinfachend ein Ampelsystem genutzt wird:
Rot: Das Ökosystem ist überlastet
Die Ampeln für die Umwelt-Indikatoren zum ökologischen Fußabdruck und zur Artenvielfalt stehen auf rot. Der Fußabdruck einer Person beträgt etwa das Dreifache der für sie zur Verfügung stehenden Biokapazität. Die „Emissionspause“ durch die Corona-Krise brachte zwar kurzfristig Entlastung, ohne anschließende Maßnahmen wird diese aber nicht nachhaltig sein. Bereits im ersten Quartal 2021 ist die Zunahme der Emissionen in Deutschland über alle Sektoren hinweg die zweitgrößte von 12 Industriestaaten. Nur in China ist sie höher (Agora, 2021).
Gelb/Rot: unsichere Einkommensverteilung
Die drohenden Verluste bei den Erwerbseinkommen konnten durch das verbesserte Kurzarbeitergeld weitgehend aufgefangen werden. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse und Soloselbstständige waren dagegen sehr stark von Einkommensverlusten betroffen, weshalb eine sich verschärfende Überschuldungsproblematik bei kleinen Einkommen zu erwarten ist. Bei Bildungsfragen liegt Deutschland in allen drei bewerteten Teilbereichen unter dem europäischen Durchschnitt und bekommt deshalb auch hier eine rote Ampel.
Gelb/Rot: Investitionen müssen steigen
Die Nettoinvestitionsquote, wichtig für das zukünftige Produktionspotential und die Innovationsfähigkeit, liegt weit unter dem Niveau, das zur Bewältigung der Herausforderungen Digitalisierung und Klimaneutralität angemessen wäre.
Zudem schränken die Belastungen der Corona-Krise die Möglichkeiten der Unternehmen zu investieren weiter ein. Auch hier steht die Ampel auf gelb und rot. Bei den Umweltschutzgütern, dem Maß für die Umstellung auf nachhaltiges Wirtschaften, liegt Deutschland international zwar immer noch in einer Spitzenposition, die Tendenz ist allerdings besorgniserregend.
Grün: Lebensjahre, Governance - aber digitale Defizite
Die Bewertung der gesellschaftlichen Situation, gemessen in der Anzahl der gesunden Lebensjahre und einem Governance-Indikator, hebt sich positiv vom Gesamtbild ab, für beide Indikatoren steht die Ampel auf grün. Doch die Corona-Krise hat zugleich die digitalen Defizite in Deutschland offengelegt, empirisch bestätigt durch einen zusätzlichen Index für die digitale Wirtschaft und die Gesellschaft.
International liegt Deutschland hier zurück, nicht nur im Bildungssystem – insbesondere den Schulen –, sondern auch in der Modernisierung von Wirtschaft und staatlicher Verwaltung.
Chancen für klimaneutrales Wirtschaften kaum genutzt
Die Bundesregierung hat die enormen Ausgaben zur wirtschaftlichen Stabilisierung zu wenig genutzt, um den wirtschaftlichen Aufschwung nach der Pandemie in Richtung eines klimaneutralen Wirtschaftens zu unterstützen. Der Löwenanteil der Ausgaben fließt ohne Lenkungswirkung in Stützungsmaßnahmen. Die mit Abstand größte Einzelmaßnahme, die Mehrwertsteuersenkung, stabilisierte allenfalls den unökologischen Status quo.