Rede von Dr. med. Paula Piechotta Aktuelle Stunde „Industrie in Ostdeutschland“
Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allen Dingen auch liebe Bürger/-innen, gerade aus Ostdeutschland, falls Sie im Moment zuhören! Frau Schimke, ich habe wahrgenommen, dass Sie versöhnlich abgeschlossen haben, und deswegen möchte ich versöhnlich, aber dann doch bestimmt darauf hinweisen – Pressespiegel von heute –: Das Ifo-Geschäftsklima im Osten verbessert sich im November im Vergleich zum Oktober. Also, zumindest ist es schon mal besser als im letzten Monat, und deswegen, glaube ich, kann es rein denklogisch nicht stimmen, dass es seit der Wende noch nie so schlimm war wie jetzt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Ich habe heute Nachmittag in dieser Debatte auch gelernt: Die Ostdeutschen lesen inzwischen ganz gern „Financial Times“, lieber Carsten Schneider.
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: So ein Blech!)
Auch die „Financial Times“ hat vor drei Tagen auf die deutsche Schuldenbremse geschaut, und ihr Urteil fiel so aus – ich übersetze ein bisschen frei –: „Man kann es mit der Sparsamkeit auch übertreiben.“
(Lachen des Abg. Stefan Rouenhoff [CDU/CSU] – Nina Warken [CDU/CSU]: Hä? Mein lieber Scholli! Uijuijui!)
Gerade wenn man sich die Ursachen für den Zustand der deutschen Industrie in Ost wie West anschaut, sieht man: Wir haben einen sehr großen Investitionsstau im Bereich Infrastruktur – digitale, aber auch Verkehrsinfrastruktur –, dessen Abbau jetzt natürlich finanziert werden muss, der die Wirtschaft hemmt und den wir uns nicht selbst eingebrockt haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union. Zur Realität gehört, dass wir gerade weltweit das Problem haben, dass es ein Enddatum für die Transformation gibt und die Erneuerung des Kapitalstocks entsprechend finanziert werden muss, was eine historisch einmalige Situation ist, die so noch nicht vor irgendeinem politischen Gestalter lag.
Der dritte Punkt – auch er ist ganz wichtig –: Schauen wir uns an, wie viel die USA, aber auch Südkorea und China – Michael Kellner hat es genannt – gerade investieren und an Standortfaktoren zum Besseren verändern. Ich verstehe jeden, der Bauchschmerzen hat bei der Größe und bei der Anzahl an Subventionen, die wir jetzt aufbringen. Aber wenn man als einziges Land nur am Seitenrand stehen bleibt, während alle anderen investieren, dann verliert man vielleicht wirklich den Anschluss. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir wollen nicht in ordnungspolitischer Schönheit sterben, sondern gerade auch für Ostdeutschland ist es wichtig, dass wir hier zu einer konstruktiven gemeinsamen Lösung kommen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands in Ost und West erhalten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Otto Fricke [FDP])
Ich möchte auf eines hinweisen. Wir haben heute sehr viel Zeit für diese Debatte über die Industrie in Ostdeutschland. Liebe Linkspartei, vielen Dank dafür! Ich glaube, alle drei Ostministerpräsidenten, die schon angesprochen wurden – Kai Wegner, Reiner Haseloff und Michael Kretschmer –, stehen nicht in Verdacht, besonders ampelaffin zu sein. Aber gerade beim Urteil des Verfassungsgerichts, bei der Schuldenbremse und auch der Bedeutung der Investitionen für Ostdeutschland waren sie sehr schnell sehr konstruktiv unterwegs.
Das kann man jetzt natürlich beiseitewischen und sagen: Ja, zwei davon kriegen halt Chipfabriken – für die hängt da viel dran –, und der dritte in Berlin ist sowieso chronisch pleite. – Aber ich glaube, so einfach ist es dann doch nicht. Schauen wir uns das Ganze noch mal an: Der KTF ist im internationalen Vergleich ja ein relativ schmal ausgestaltetes Programm, um die Investitionsrückstände zu beseitigen, die Transformationsnotwendigkeiten und die Standortwettbewerbsfähigkeit Deutschlands abzusichern.
Ostdeutsche haben die Konsequenzen dessen, wenn all das nicht mehr Realität ist, einfach schon viel spürbarer erlebt – Ende der 80er-Jahre und Anfang der 90er-Jahre –, als das viele Bürgerinnen und Bürger in Ostwestfalen-Lippe, oder wo manche Gegner der Reform der Schuldenbremse herkommen, vielleicht erlebt haben. Insbesondere die Folgen des Investitionsstaus betrafen viele ostdeutsche Arbeitnehmer/-innen in der ehemaligen DDR: Sie haben in den 80er-Jahren in Betrieben gearbeitet, wo jeder wusste, dass zwei Drittel der Maschinen schon längst hätten ausgewechselt werden müssen. Zur Wahrheit, lieber Herr Görke, gehört ja auch: Der Anfang der 90er-Jahre, nach der Wiedervereinigung, wäre einfacher gewesen, wenn das Produktionsvermögen der DDR aktueller, moderner gewesen wäre. Das gehört zur Wahrheit dazu. Ostdeutsche haben auch erlebt, dass, wenn man zu stark den Anschluss an die globale Wirtschaft verloren hat, es unglaublich teuer wird, alle Unternehmen mit staatlichen Zuschüssen zu retten.
Wir hatten schon mal eine ganz ähnliche Diskussion über Leuna in Sachsen-Anhalt. Da flossen damals 5 Milliarden Mark rein. Schon damals wurden 1,4 Milliarden Mark an direkten Steuerzuschüssen gezahlt.
(Katrin Budde [SPD]: Richtig!)
Das waren stolze 2 Millionen Mark pro Arbeitsplatz.
(Katrin Budde [SPD]: Richtig!)
Das sind spannende Parallelen zur heutigen Diskussion über die Chipfabrik in Magdeburg.
(Katrin Budde [SPD]: Ja!)
Trotzdem würde Ihnen heute jeder in Leuna sagen: „Das war gut angelegtes Geld“; denn der Standort ist noch da,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
und die Leute verdienen überdurchschnittlich für ostdeutsche und vor allen Dingen auch für sachsen-anhaltinische Verhältnisse.
Letzter Punkt: die Frage der Standortwettbewerbsfähigkeit. Ich glaube, die Art und Weise, wie die DDR im Laufe der Jahrzehnte ihre Wettbewerbsfähigkeit deutlich verloren hat, weil sie wirtschaftlich nur von der Substanz gelebt hat, hat vielen Ostdeutschen deutlich gemacht, wie stark alles miteinander zusammenhängt. Den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung konnte nicht mehr bedarfsgerecht begegnet werden, weil die Wirtschaft insbesondere in den 80-ern einfach nicht mehr leistungsfähig war.
Vor dem Hintergrund ist es wichtig, anzuerkennen, dass Menschen in Ostdeutschland natürlich besondere Ängste haben, wenn es darum geht, Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Piechotta.
Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich glaube, da haben wir alle die Verantwortung, eine konstruktive Lösung für den KTF zu finden.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Piechotta.
Dr. Paula Piechotta (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wie gesagt: Wir wollen nicht in ordnungspolitischer Schönheit sterben.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Philipp Hartewig [FDP])
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat Friedhelm Boginski für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)